Eine Frau, die ihr Haus nicht verlassen kann. Eine neue Familie nebenan. Und eine verhängnisvolle Nacht, in der sich die Ereignisse überschlagen. In seinem Thriller „The Woman In The Window“ spielt A. J. Finn eindrucksvoll mit den Grenzen der Realität und beleuchtet das Leben einer traumatisierten Agoraphobikerin, die selbst Opfer eines tragischen Vorfalls wurde. Finn’s Werk schaffte es nach der Veröffentlichung im Jahr 2018 bis an die Spitze der New York Times Bestsellerliste und gilt als „phänomenales Debüt“ (Nicci French) des amerikanischen Autors. Auch wenn mich der primäre Handlungsstrang rund um den mysteriösen Mord im Nachbarhaus nicht ganz vom Hocker gehauen hat, bin ich nachhaltig beeindruckt von der Charakterentwicklung der Protagonistin – und möchte dir dieses Buch auf keinen Fall vorenthalten.
Inhalt
Auf 541 Seiten begleiten wir die Psychologin Anna Fox, die mit ihrem Kater Punch ein großes in Harlem situiertes Haus bewohnt. Ein Jahr zuvor erlebte die noch junge Frau einen tiefen Schicksalsschlag, durch den sich ihr Mann Ed mitsamt gemeinsamer Tochter Olivia von ihr trennte. Nachfolgend entwickelte Anna eine psychische Störung, die sie ans Haus bindet und arbeitsunfähig macht.
Agoraphobie: Oberbegriff für eine Angststörung, die durch bestimmte Orte und Situationen wie weite Plätze oder Menschengedränge ausgelöst wird. Die Betroffenen vermeiden die auslösenden Situationen und können im Extremfall nicht mehr die eigene Wohnung verlassen.
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Agoraphobie
Zynisch blickt Anna auf die Scherben ihrer Vergangenheit ohne Aussicht auf eine glückliche Zukunft. Ihre sozialen Kontakte beschränken sich auf regelmäßige Gespräche mit Ed und Olivia, Hausbesuche ihrer Therapeuten und dem ständigen Austausch mit anderen Betroffenen in einem Online-Forum namens AGORA. Dort gibt sie psychologische Ratschläge und bietet ein offenes Ohr für anonyme Personen, die ein ähnliches Leiden zu tragen haben wie sie selbst. Abgesehen davon besteht Annas Alltag aus einer unendlichen Wiederholungsschleife: Ihre Lieblings-Schwarz-Weiß-Filme flimmern ununterbrochen über den Fernseherbildschirm und in aller Heimlichkeit beobachtet sie ihre Nachbarn, deren Tagesabläufe sie bereits auswendig kennt. Hinzu kommt ein exzessiver Alkoholkonsum, der sich eigentlich so gar nicht mit ihrer verschriebenen Pillendosis verträgt.
Als schließlich das Ehepaar Russel mit dem 16-jährigen Sohn Ethan nebenan einzieht, ändert sich vorerst nicht viel im Leben der Protagonistin. Mit Kamera in der Hand verfolgt sie alles, was sich bei den neuen Nachbarn tut und tritt sogar in persönlichen Kontakt, als sich Ethan mit einem kleinen Willkommensgeschenk bei ihr vorstellt. Auch seine Mutter Jane lernt sie kurze Zeit später näher kennen. Die beiden verbringen einen heiteren Nachmittag bei Anna, welche zusehends Sympathien zu der Frau von nebenan aufbaut. Später bezeichnet Anna ihren Gast sogar insgeheim als Freundin, wenn auch etwas ironisch, und wundert sich selbst darüber, wie lange sie sich miteinander unterhalten haben.
Gesprächsthema der beiden ist unter Anderem auch Janes Mann Alistair, der scheinbar komplizierter und herrschsüchtiger Natur ist. Nachfolgend analysiert Anna die Ehe ihrer Nachbarn und vermutet sogar eine von Gewalt geprägte Beziehung zwischen den beiden. Bestätigt sieht sie sich in dieser These spätestens, als sie ein paar Tage danach Schreie aus dem offenen Küchenfenster hört, die ganz klar aus dem Hause Russel kommen. Anna will diesem Vorfall auf den Grund gehen und setzt sich telefonisch mit der Familie in Verbindung, muss sich aber mit der Dementierung des Familienvaters über die angeblichen Schreie arrangieren.
Trotzdem behält Anna das Ehepaar weiter im Auge – auch, als sie eines Abends mal wieder zugedröhnt auf dem Sofa sitzt und Die schwarze Natter im Fernseher laufen lässt. So düster wie der Film ist auch das Bild, welches sich unserer Protagonistin nur wenige Momente später präsentiert, als sie zufällig aus dem Fenster schaut: Jane steht blutüberströmt im eigenen Wohnzimmer mit einem stummen Schrei auf den Lippen. Ein Messer steckt in ihrer Brust. Kurze Zeit später geht sie leblos zu Boden.
Anna handelt sofort und und überschreitet im Eifer des Gefechts sogar eine entscheidende Grenze: Sie verlässt ihr Haus. Kraftlos bricht sie auf dem Weg zu den Russels zusammen, muss von Rettungskräften in die Notaufnahme gebracht werden. Dort trifft sie auch auf den ermittelnden Detective, der sich auf ihren Wunsch hin mit dem Fall auseinandersetzt. Doch ohne Erfolg. Den Ermittlungen zu Folge war Alistairs Frau Jane in der Nacht des Verbrechens gar nicht Zuhause. Und es wird noch merkwürdiger: Die Jane, die nun im Haus der Russels lebt, hat Anna noch nie zuvor gesehen. Während die Polizei Annas Zurechnungsfähigkeit in Frage stellt, sucht sie selbst nach einer Erklärung für alles – und muss feststellen, dass sich der vermeintliche Täter langsam auch ihr nähert.
Kritik
Wie schon anfangs erwähnt, finde ich den Charakter der Protagonistin unglaublich spannend, nicht zuletzt aufgrund der interessant aufgearbeiten Erzählperspektive. Als Leser wird man hier Zeuge von Annas innerer Stimme, die uns durch die gesamte Handlung begleitet. Bezeichnend sind in dem Zusammenhang kurze Kapitel und teils abgehakte Sätze, manchmal auch einfach Ellipsen. Sie spiegeln die genauen Gedanken und das Empfinden der Hauptfigur wider, wodurch man sich ein authentisches Bild von Anna machen kann. Dieser Aspekt wirkt sich enorm auf den Leser aus, da man sich nicht immer sicher sein kann, ob oder wie viel Anna sich durch ihren Zustand einbildet. Ihre Glaubwürdigkeit wird damit entscheidend im Unklaren gelassen.
Darüber hinaus ist Anna selbst auch eine Person mit vielen Unklarheiten. Bis zuletzt durchschaut man ihre Vergangenheit nicht gänzlich. Was genau war der Auslöser für ihre Agoraphobie? Warum hat ihre Familie sie verlassen? Dieses Geheimnis hält sich verschwiegen im Hintergrund und nimmt zunächst nicht viel Einfluss auf den primären Handlungsstrang. Trotzdem passt es perfekt zu der ohnehin etwas obskuren Stimmung und lässt den Leser viel spekulieren. Der Spannungsbogen wird dadurch bis zum Schluss aufrechterhalten und überrascht mit der ein oder anderen schockierenden Wendung.
Bewundernswert finde ich außerdem, dass sich der Thriller auf dermaßen spannende Weise dem Thema einer psychischen Erkrankung widmet. Die Handlung spielt sich fast ausschließlich im Haus der Protagonistin ab, wodurch man vielleicht sogar eine Parallele zu sich selbst ziehen kann. Das Motiv des Gefangen-Seins in den eigenen vier Wänden und der Reduzierung von sozialen Kontakten – so geht es derzeit sehr vielen Menschen durch Corona. Auch wenn die Situation der Hauptfigur eine ganz andere ist, kann man sich dadurch auf gewisse Art und Weise mit ihrem Frust und ihren Ängsten identifizieren. Seinen Charme erhält das Buch durch den Humor der Protagonistin, der sich in bissigem Stil äußert und den Leser hin und wieder zum Schmunzeln bringt.
Mein einziger Kritikpunkt bezieht sich auf die Auflösung am Ende. Der Plot Twist in Bezug auf den Mord an Jane macht zwar durchaus Sinn, schlägt für meinen Geschmack aber ein bisschen über die Stränge. Das ist aber auch nur mein persönlicher Geschmack – andere Personen, die das Buch gelesen haben, konnten mir da nicht zu hundert Prozent zustimmen.
Fazit
„The Woman In The Window“ von A.J. Finn ist ein moderner Thriller mit vielen Höhepunkten. Die mysteriösen Umstände des Verbrechens an Jane Russel lassen genügend Raum für Spekulation, wobei die Handlung nicht zu schwammig wirkt und dem Leser am Ende keine Antwort schuldig bleibt. Das Buch lebt von einer bemitleidenswerten und tragischen Protagonistin, die aber in den richtigen Moment Stärke zeigt und zu sich selbst steht.
Übrigens: Das Buch wurde bereits verfilmt und sollte im Mai 2020 in die Kinos kommen, der Kinostart wurde coronabedingt verschoben.
„The Woman In The Window“ kostet im Taschenbuchformat 9,99€ und ist online, sowie vereinzelt in Buchfilialen erhältlich.