Old but gold: Der Roman „Wasserfarben“ von Thomas Brussig erschien erstmals 1991 im Aufbau Verlag und handelt vom Autoren selbst, der sich als Abiturient in der DDR mit seinen Zukunftsperspektiven auseinandersetzt und im Zuge dessen die politische Härte der achtziger Jahre zu spüren bekommt. Auf der Buchrückseite wird dem Leser eine „lässig-ironisch[e]“ Erzählweise versprochen, mit der die großen Sinnfragen rund um das Erwachsenwerden beschrieben werden. Was ich allerdings viel herausragender finde: Dass man einen realen Eindruck vom Chaos bekommt, welches sich im Kopf des jungen Protagonisten Anton abspielt. Man wirft einen fast schon intimen Blick auf seine Gedanken; auf das ewige Hin und Her und die Frustration, wenn mal wieder die Frage aufkommt: „Was machst du nach dem Abitur?“

Inhalt

Real ist dieser Eindruck deshalb, weil Brussig mit dem Schreiben des Buches nur kurze Zeit nach seiner letzten Abitur-Prüfung begonnen hat – also als er selbst noch nicht wusste, wie es für ihn weitergeht. Doch von vorn. Die Story findet ihren Anfang nämlich ungefähr ein halbes Jahr vor Schulabschluss, als der 17-jährige Anton ins Büro des Direktors gerufen wird. Wie zu dieser Zeit allgemein an der EOS* üblich, müssen sich die Schüler auf einen Studienplatz bewerben, um dem Abitur – wie es der Direktor selbst sagt – einen Sinn zu verleihen.

*EOS = Erweiterte Oberschule ▻ die höhere Schule im Schulsystem der DDR, die den Absolventen nach der zwölften Klasse die allgemeine Hochschulreife zusprach

Denn die gesellschaftlichen und politischen Erwartungen an die Abiturienten sind hoch: Die jungen Erwachsenen sollen einen persönlichen Beitrag zur Stabilisierung der Parteiherrschaft leisten und sich politisch zuverlässig, sowie fachlich kompetent in die marxistisch-leninistische Führung der SED einfügen. Die persönlichen Präferenzen des Einzelnen sind dabei zwar relevant, im Großen und Ganzen betrachtet aber eher zweitrangig.

Schon bei seiner Bewerbung auf einen Abiturplatz an der EOS musste Anton zwei Studienwüsche abgeben – in seinem Fall Journalistik und Außenwirtschaft, wobei ihn nur ersteres wirklich reizt. Da Anton aber eine Tante im Westen hat, würde ihm laut Studienberatung ein Journalistikstudium verwehrt werden. Alternativ findet er keinen anderen Studiengang, der für ihn in Frage kommen würde. Die Folge: Er bewirbt sich als einer der einzigen auf überhaupt keinen Studienplatz, was bei der Schulleitung auf große Ablehnung stößt.

Der Direktor wirft ihm eine auffällige Gleichgültigkeit vor und droht mit Konsequenzen. Diese Standpauke stößt bei Anton augenscheinlich auf taube Ohren und er wünscht sich innerlich, doch bitte in Ruhe gelassen zu werden. Nachdem er endlich entlassen wird, zeigt sich, dass Anton weniger Angst davor hat, ohne Studium in der Luft zu hängen, als vielmehr davor, politisch für irgendwas drangekriegt zu werden.

Hinter seiner passiven Genervtheit verbirgt Anton eine Menge Frust und Planungslosigkeit. Schweigsam und ausdruckslos lässt er das Geplapper von den Freundinnen seiner Mutter über sich ergehen, als diese ein paar Tage später zu Besuch kommen und ihn über seine Perspektivlosigkeit belehren. Doch innerlich brodelt es in ihm, er hegt eine ausgeprägte Unsympathie gegen diese „Weibsbilder“, wie er sie nennt, die sich lautstark über die größten Nichtigkeiten austauschen und zu allem Überfluss ständig über seinen Bruder Leff herziehen, der seinerseits das Musikstudium abgebrochen hat und nun sein Glück als Rockstar versucht.

Anton bewundert seinen Bruder für seine Unabhängigkeit und seinen Freigeist. Doch während Leff seine Träume offen nach außen trägt und sie lebt, bleibt Anton still und weiß selbst nicht genau, welchen Weg er eigentlich gehen möchte. Diese Gedanken begleiten ihn während der gesamten Handlung, ebenso wie eine andauernde Einsamkeit. Seinen achtzehnten Geburtstag feiert er Alkohol trinkend allein und in seinem Umfeld scheint es keine Person zu geben, der er sich gänzlich anvertrauen kann. Auch in Bezug auf seine Sexualität unterscheidet er sich von der Norm, obwohl der Leser nie erfährt, was genau es damit auf sich hat.

Als ein paar Wochen später schließlich die Studienzulassungen ausgeteilt werden, verspürt Anton einen regelrechten Hass auf seine Mitschüler und offenbart, wie sehr es ihn mitnimmt, selbst keine Zulassung zu bekommen. Gleichzeitig empfindet er die Art, wie feierlich diese Zeremonie von statten geht, als komplett übertrieben – denn nur, weil man vom Direktor stolz angelächelt werde, habe man noch längst nichts erreicht, so denkt er.

Unter einem wichtigen Tag im Leben stelle ich mir was ganz anderes vor (…) Durch so eine Zulassung ändert sich im Prinzip nicht viel. Man steigt ein Stockwerk höher, aber deshalb hat man noch lange nicht den Horizont gesehen. Und wenn Sie die Wahrheit wissen wollen: Ich glaube, ich habe noch keinen einzigen wichtigen Tag in meinem Leben gehabt.

Wasserfarben

Später erfährt Anton, dass er trotz Westverwandten eigentlich doch Journalistik studieren könnte. Dieser Erkenntnis folgt eine weitere, viel bedeutsamere, die ich an dieser Stelle jedoch nicht spoilern möchte. Da Brussig diesen Roman autobiografisch kurz nach seinen Prüfungen verfasste, ist das offene Ende der Geschichte um Anton naheliegend.

Kritik

Zugegeben: Die Grundstimmung des Romans ist echt pessimistisch und wird nur punktuell durch kurze Freudenmomente des Protagonisten aufgehellt. Wahrscheinlich trifft dieses Buch auch längst nicht jeden Geschmack. Vor allem jetzt nicht mehr, denn die Sprache hat sich seit den Achtzigern deutlich weiterentwickelt – niemand den ich kenne, nimmt jetzt noch Wörter wie „drollig“, „Luftikus“ oder „schau“ in den Mund.

Doch auch, wenn die Erzählweise etwas veraltet daherkommt, unterscheidet sich die grundsätzliche Problematik nur bedingt von heute. Ich meine, klar, heutzutage wird man (glücklicherweise) nicht mehr von der Schulleitung höchstpersönlich angeschnauzt, nur weil man noch nicht weiß, was man studieren will. Und im Gegensatz zur DDR stehen einem mittlerweile auch deutlich mehr Türen offen. Man kann gehen wohin man will und man kann im Grunde auch machen, was man will.

Aber: Ich persönlich kann die Unentschlossenheit des Protagonisten nachvollziehen, denn auch ich stehe vor der Frage, welche berufliche Richtung ich einschlagen möchte. Und wenn dann auch noch alle um einen herum damit beginnen, die ersten Schritte auf ihrem persönlichen Weg zu gehen, frustet einen das vielleicht mehr, als man sich zuerst eingestehen will.

Bei Anton handelt es sich außerdem um einen nicht ganz durchschaubaren Charakter mit einer gewissen Eigensinnigkeit und teils skurrilen Gedankengängen, der nicht unbedingt immer alle Sympathien auf seiner Seite hat. Die Herausforderung besteht für den Leser mitunter darin zu verstehen, was sich hinter der Wand aus Missmut und Verbitterung verbirgt, die bei sämtlichen Handlungen des Protagonisten mehr als deutlich zum Ausdruck kommt. Trotzdem konnte ich mich mit ihm in vielerlei Hinsicht identifizieren und aus einigen Monologen, sowie aus den Gesprächen mit seinem Bruder Leff einen Mehrwert ziehen, der mir sogar hilft, mich selbst ein bisschen besser zu verstehen.

Fazit

Auf 233 Seiten verpackt Thomas Brussig seine Erlebnisse als Schüler in einen gelungenen Entwicklungsroman, der keinen Halt vor dem harten Boden der Tatsachen macht. Falls du eher kein Fan bist von DDR-Literatur und auf eine spannende, dramatische Handlung stehst, wird dich das Buch wahrscheinlich weniger begeistern. Wasserfarben mag zwar eine leichte und etwas monotone Lektüre sein, bietet aber Stoff zum Nachdenken und lässt den Leser selbst ein bisschen in Erinnerungen schwelgen. Für mich war es eine nette Abwechslung zu meinem typischen Literaturgeschmack und greift die Thematik des Erwachsenwerdens auf, die auch mich gerade in vollen Zügen beschäftigt.

„Wasserfarben“ kostet im Taschenbuchformat 14 Euro und ist online, sowie vereinzelt in Buchfilialen erhältlich.

So trüb wie Wasserfarben

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